6230 Euro in einen Betriebsrentenvertrag eingezahlt, drei Jahre später 639 Euro auf dem Rentenkonto. Das ist kein Trick. So funktioniert versicherungsmathematische Logik à la Zillmer. Der Schuldige ist gefunden. Nicht der Versicherer, der Arbeitgeber muss den Schaden begleichen – ein Urteil mit brisanten Folgen.
Hamburg – Altersvorsorge über den Betrieb ist eine prima Sache. Auf diesem Weg kann der Beschäftige einen Teil seines Lohnes steuerbegünstigt und sozialabgabenbefreit für eine spätere Betriebsrente ansparen. Und allen Unkenrufen zum Trotz soll dies auch nach 2008 noch der Fall sein, verlautet aus Berlin. Gibt der Chef noch etwas dazu, kann sich das ebenso für weniger gut Verdienende rechnen.
Angriff auf die Grundfesten: Ein Gerichtsurteil könnte die Welt der Betrieblichen Altersvororge gehörig durcheinander würfeln
Doch aufgepasst! Die Altersvorsorge über den Betrieb im Zuge der so genannten Entgeltumwandlung hat auch Fallstricke – für Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen. Ein Urteil des Landesarbeitsgerichtes München könnte für die Unternehmen dramatische Folgen haben. Rechtsexperten sprechen von milliardenschweren Haftungsrisiken und Schadenersatzforderungen für die Unternehmen, sollte der Fall Schule machen. Wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung haben die Münchener Richter die Revision beim Bundesarbeitsgericht zugelassen.
Worum geht’s? In dem jetzt verhandelten Fall (AZ: 4 SA 1152/06) hatte eine Arbeitnehmerin im Zuge der Entgeltumwandlung rund drei Jahre lang insgesamt 6230 Euro ihres Gehaltes über ihren Arbeitgeber in eine Versorgungskasse eingezahlt. Als die Frau kündigte, wies ihr Versicherungskonto ein Guthaben von 639 Euro aus. Den Rest der eingezahlten Prämien, also 5591 Euro, hatte der Versicherer mit anfallenden Abschlusskosten und Vertriebsprovisionen verrechnet. Dieses so genannte Zillmer-Verfahren ist Standard in der deutschen Assekuranz. Und gerade darin liegt die Brisanz.
Gezillmerte Verträge sind unzulässig
Vereinbarungen zur Entgeltumwandlung, die gezillmerte Tarife vorsehen, sind unwirksam, hatte Gerhard Reinicke bereits im März vergangenen Jahres in einer Fachabhandlung zum Entsetzen der Versicherungswirtschaft analysiert. Reinicke ist nicht irgendein Jurist, sondern Vorsitzender Richter des für Betriebsrenten zuständigen dritten Senats beim Erfurter Bundesarbeitsgericht. Die Münchener Landesarbeitsrichter folgten im Kern dieser Auffassung und verurteilten den Arbeitgeber, seiner ehemaligen Beschäftigten den Differenzbetrag plus Zinsen zu ersetzen (AZ: 4 SA 1152/06).
Auch wenn der Arbeitgeber die Beiträge der Arbeitnehmerin praktisch nur an den Versorgungsträger weiterleitet, obliegt er einer besonderen Fürsorgepflicht. Er hat dafür Sorge zu tragen, dass die abgeführten Gehaltsbestandteile in eine “wertgleiche Anwartschaft” umgewandelt werden, begründeten die Richter ihre Entscheidung.
Das heißt: Der Wert der Versorgungszusage muss objektiv mindestens dem Wert der Gehaltsbestandteile entsprechen. Gezillmerte Verträge, bei denen das Versichertenguthaben in den ersten Jahren und womöglich darüber hinaus gegen Null tendiert, erfüllen diese Anforderungen nicht, stellten die Richter fest.
Das zwingende Gebot der Wertgleichheit
Zur Verdeutlichung: Die Klägerin hätte mit ihrem Vertrag mindestens zehn Jahre im “Minus” gelegen: Der Rückkaufswert der Lebensversicherung in diesem Zeitraum hätte also selbst unter Herausrechnung der Kosten für den Todesfallschutz nicht einmal annähernd die Summe der eingezahlten Beiträge erreicht. Von einer Wertgleichheit gemäß den gesetzlichen Vorgaben könne deshalb “auch nicht ansatzweise die Rede sein”, argumentierten die Münchener Richter. Sie erklärten die Vereinbarung zur Entgeltumwandlung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer daher für unwirksam, der Arbeitgeber muss für die Versorgungslücke seiner Arbeitnehmerin haften.
“95 Prozent aller Versorgungszusagen fehlerhaft”
Im konkret verhandelten Fall muss der Arbeitgeber samt Anwalts- und Gerichtskosten plus Nachzahlung und Verzinsung von Beiträgen zur Sozialversicherung unter dem Strich einen niedrigen fünfstelligen Betrag berappen, rechnet der Münchener Rechtsanwalt Johannes Fiala vor. Seine Kanzlei hat das Urteil vor dem Landesarbeitgericht erstritten. Das hört sich zunächst vergleichsweise wenig an. Doch der Fall birgt enorme Dimensionen.
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Rote Karte: Arbeitnehmer könnten Milliarden von ihren Arbeitgebern nachfordern
Der Münchener Betriebsrentenexperte geht davon aus, dass 95 Prozent aller betrieblichen Versorgungszusagen in Deutschland fehlerhaft sind. Machten die potentiell sechs Millionen betroffenen Versicherten von ihrem Recht Gebrauch, müssen die Unternehmen mit milliardenschweren Nachforderungen rechnen. Das Gesamtschadenspotential schätzten Versicherungsmathematiker auf bis zu 65 Milliarden Euro, sagt Fiala.
Warum die Unternehmen nicht vorbereitet sind
Die wenigsten Unternehmen dürften bislang für mögliche Schadenersatzansprüche ihrer Mitarbeiter vorgesorgt haben. Das darf nicht verwundern: Zum einen tritt das Drama mickrigster Rückkaufswerte gemessen an den abgeführten Gehaltsbestandteilen zumeist erst dann offen zu Tage, wenn ein Arbeitnehmer die Firma verlässt und seinen Vertrag zu dem neuen Arbeitgeber mitnehmen möchte.
Zum anderen vertrauten die Arbeitgeber – ab 2002 von der gesetzlichen Pflicht überrannt, ihren Beschäftigten eine betriebliche Altervorsorge anbieten zu müssen – wohl allzu gern dem Versicherungsvermittler. Dass sich der Versicherer die vermeintlich kostenlose Beratung über knallhart kalkulierte, gezillmerte Verträge mitunter sträflich teuer bezahlen lässt, dürfte sich den versicherungsmathematisch unbeleckten Arbeitgebern dabei kaum erschlossen haben.
Verjährungsfrist kann bis zu 30 Jahre dauern
Noch weniger hatten die Arbeitgeber vermutlich damit gerechnet, dass ihre besondere arbeitsrechtliche Fürsorgepflicht sie im Ergebnis dazu anhält, für ihre Beschäftigten das renditeträchtigste und am wenigsten kostenbelastete Produkt auszuwählen – betrachteten sie sich doch schlicht als Weiterleiter und nicht als Treuhänder der umgewandelten Gehaltsbestandteile ihrer Arbeitnehmer.
Zillmer-Verfahren
Das Zillmer-Verfahren (Zillmerung) ist nach dem Versicherungsmathematiker August Zillmer (1831-1891) benannt. Der Begriff beschreibt ein mathematisches Verfahren zur Tilgung der Abschlusskosten einer Lebensversicherung. Die Abschlusskosten setzen sich unter anderem aus der Vermittlerprovision und Verwaltungskosten zusammen. Sie wären eigentlich einmalig zu Versicherungsbeginn zu bezahlen. Um aber dem Versicherten einen gleich bleibenden Beitrag bieten zu können, bevorschussen die Anbieter sozusagen diese Kosten. In den ersten Jahren seines Vertrages tilgt der Versicherte diese Zuschüsse mit seinem Beitrag. In der Praxis führt dies bei früher Kündigung der Police zu Rückkaufswerten, die gegen Null tendieren.
Doch es nützt nichts, das Kind ist in den Brunnen gefallen. Und die Klagewellen schlagen künftig hoch, sagen Beobachter. Für klaffende Versorgungslücken ihrer betrieblichen Altersvorsorge in Folge der Zillmerung können die Beschäftigten ihr Unternehmen auf jeden Fall drei Jahre lang haftbar machen, im Einzelfall sogar bis zu 30 Jahre.
Die Verjährungsfrist beginnt laut Rechtsexperten mit Ende jenes Jahres, in dem der Betroffene von seinen Ansprüchen erfahren hat. Sicherer aus Perspektive des Arbeitnehmers sei es aber, den Tag des Vertragsabbruches als Anfangspunkt der Verjährungsfrist zu unterstellen. Ein Vertrag gilt dann als abgebrochen, wenn der Versicherte ihn gekündigt oder beitragsfrei gestellt hat.
“Zillmerung passt nicht zur Flexibilität am Arbeitsmarkt”
Wie hoch die Forderung gegenüber dem Arbeitgeber ausfällt, hängt von vielen Faktoren ab und unterliegt einer komplizierten Berechnung. Die Frage nach der Höhe der Forderung sollte am besten ein Aktuar oder versicherungsmathematisch versierter Arbeitsrechtler beantworten, zumal der betroffene Arbeitgeber seinerseits versuchen wird, an ihn herangetragene Ansprüche mit geballter Fachkompetenz abzuwehren oder am besten ganz der Haftungsfalle zu entrinnen.
Verbraucherschützer bejubeln die Entscheidung des Gerichts als “Durchbruch für die Arbeitnehmer” und fordern die Politik dazu auf, Konsequenzen aus dem Urteil zu ziehen. “Die Zillmerung passt nicht zu der immer wieder beschworenen Flexibilität am Arbeitsmarkt. Sie muss ersatzlos gestrichen werden”, sagt Edda Müller, Vorsitzende des Bundesverband Verbraucherzentralen (vzbv).
Betriebsrentenexperten wie Rechtsanwalt Fiala bezweifeln allerdings, ob dies gegen die starke Lobby der Versicherungswirtschaft durchsetzbar ist. Aus vertriebsstrategischen Gründen geht ja bereits die auf dem Altersvorsorgemarkt scharf mit den Versicherern konkurrierende Fondbranche vereinzelt dazu über, die Provisionspraxis der Assekuranz zu kopieren. Anstelle eines gänzlichen Verbots der Zillmerung plädiert Fiala vielmehr dafür, dass die erhobenen Abschlusskosten und Vertriebsprovisionen in einem angemessen Verhältnis zu dem stehen sollten, was der Mitarbeiter tatsächlich in seinen Vertrag einzahlt.
So genannte ungezillmerte Verträge, bei denen sich die Kosten für Abschluss und Vermittlung auf die gesamte Vertragslaufzeit erstrecken, sozusagen pro rata temporis erhoben werden, könnten einen Ausweg aus dem Dilemma weisen. Der Vorteil für den Versicherten: Sein verzinster Sparanteil wächst damit schneller.
Einige Anbieter in Deutschland praktizieren dieses Modell mit Erfolg. Doch auch diese Lösung ist nicht frei von Fallstricken. Denn nicht alle ungezillmerten Tarife verteilen in jedem Fall die mit einem Vertrag einhergehenden Kosten auf seine gesamte Laufzeit. Für den Arbeitgeber heißt das im Umkehrschluss: ein Haftungsrisiko lässt sich nie ganz ausschließen.
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Mehr im Internet • Urteil Landesarbeitsgericht München
http://www.vzbv.de/mediapics/lag_muenchen_betr_altersvorsorge_0407.pdf
• Durchführungswege der betrieblichen Altersvorsorge
http://www.bmas.bund.de/BMAS/Navigation/Rente/Zusaetzliche-Altersvorsorge/Betriebliche-Altersvorsorge/durchfuehrungswege.html
• Betriebsrentengesetz
http://db03.bmgs.de/Gesetze/betravginhalt.htm
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